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Pressemitteilung 08/23 - 06.02.2023

Universalit?ten bei der Glasbildung

Ein Forscherteam unter Beteiligung der Universit?t Augsburg berichtet im führenden physikalischen Fachjournal "Nature Physics" über unerwartet universelle Beziehungen zwischen der thermischen Ausdehnung und der Glasübergangstemperatur von glasbildenden Materialien

In einem kürzlich erschienenen Beitrag im führenden physikalischen Fachjournal "Nature Physics" berichtet ein Team von Forschern unter Beteiligung der Universit?t Augsburg über unerwartet universelle Beziehungen zwischen der thermischen Ausdehnung und der Glasübergangstemperatur von glasbildenden Materialien, was neue Einblicke in die komplexe Natur des ?bergangs von der Flüssigkeit in das feste Glas gew?hrt.

Thermische Ausdehnung in der Glasschmelze und im festen Glas ? Universit?t Augsburg

Gl?ser sind feste Materialien, aber ohne die normalerweise in Festk?rpern vorhandene Kristallstruktur mit regelm??iger Atomanordnung. Das Schmelzen kristalliner Materialien ist theoretisch im Rahmen des sogenannten Lindemann-Kriteriums gut verstanden: Die beim Aufheizen zunehmend st?rkeren Vibrationen der Atome oder Moleküle werden irgendwann so heftig, dass sie sich aus ihrer gitterartigen, kristallinen Anordnung quasi "losrei?en" und das Material schmilzt. Im Gegensatz dazu sind die mikroskopischen Vorg?nge beim ?bergang eines Glases in die Flüssigkeit noch weitgehend unverstanden, und das, obwohl Gl?ser zu den ?ltesten vom Menschen genutzten Materialien geh?ren.

In ihrem soeben in "Nature Physics" erschienenen Beitrag "Thermal expansion and the glass transition" berichten nun Prof. Dr. Alois Loidl und PD Dr. Peter Lunkenheimer (beide Universit?t Augsburg) zusammen mit Kollegen aus G?ttingen, Berlin und Mailand, dass die Verflüssigung von Gl?sern durch zus?tzliche Faktoren bestimmt wird: Zwar spielen Vibrationen auch eine Rolle. Zudem muss man aber auch berücksichtigen, dass die Bewegung der Atome oder Moleküle in der glasbildenden Flüssigkeit typischerweise "kooperativ", d.h. gemeinsam, erfolgt, was den Energieaufwand für die Glasverflüssigung deutlich erh?hen kann. Den Nachweis dieses Verhaltens konnten die Wissenschaftler durch die Analyse der thermischen Ausdehnung und der Glasübergangstemperatur von mehr als 200 Gl?sern und Flüssigkeiten erbringen, die in den vergangenen 100 Jahren ver?ffentlicht wurden.

Gl?ser - viel mehr als nur Materialien für Fenster und Beh?lter

Gl?ser sind von immenser technologischer Bedeutung und nahezu allgegenw?rtig in unserem t?glichen Leben – von wohlbekannten Anwendungen wie Beh?ltern oder Fenstern, über Glasfasern zur Datenübertragung bis hin zu fortgeschrittenen Elektrolytmaterialien in Akkumulatoren oder Brennstoffzellen. Auch metallische Gl?ser mit gegenüber herk?mmlichen Metallen weit überlegenen Werkstoffeigenschaften, die gro?e Gruppe der Polymere und sogar diverse Arten biologischer Materie geh?ren physikalisch zur Gruppe der Gl?ser.

Der Glasübergang – kein konventioneller Phasenübergang

In der Regel werden Gl?ser durch einfaches Abkühlen aus der Schmelze hergestellt. In Gegensatz zur schlagartigen Verfestigung bei anderen Flüssigkeiten, was typisch für einen sogenannten Phasenübergang ist, erstarren Glasschmelzen allerdings kontinuierlich. Entsprechend erfolgt auch die Verflüssigung von Gl?sern nicht abrupt. Eine weitverbreitete theoretische Sichtweise erkl?rt den ?bergang von der Flüssigkeit in das Glas als Einfrieren der Atome oder Moleküle in zwar ungeordneten, aber wohldefinierten Positionen. Dies ist mit einer Zunahme der Kooperativit?t der miteinander wechselwirkenden Atome oder Moleküle beim Abkühlen verbunden.

Daten für über 200 Gl?ser und Flüssigkeiten

Die erw?hnten, mit ansteigender Temperatur zunehmenden atomaren Vibrationen sind auch für die thermische Ausdehnung von Festk?rpern verantwortlich. Gelten die Ideen des Lindemann-Kriteriums, sollte diese umso h?her sein, je geringer der Schmelzpunkt ist – eine inverse Proportionalit?t, die für kristalline Materialien als erfüllt gilt. In Zusammenarbeit mit ihren Kolleginnen und Kollegen Birte Riechers (Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung, Berlin), Alessio Zaccone (Universit?t Mailand, Italien) und Konrad Samwer (Universit?t G?ttingen) konnten die Physiker an der Universit?t Augsburg nun nachweisen, dass ein analoger Zusammenhang zwischen Glasausdehnung und Glasübergangstemperatur nicht besteht und damit das Lindemann-Kriterium für den Glasübergang nicht gilt. Dies gelang durch die Analyse von Daten zur thermischen Ausdehnung und Glasübergangstemperatur von mehr als 200 Materialien aus teils sehr unterschiedlichen Substanzklassen wie konventionelle Silikatgl?ser, molekulare, ionische und metallische Gl?ser und Polymere. Dieses qualitativ andere Verhalten beim Verflüssigen von Gl?sern konnten die Forscher auf die wachsende Zahl sich kooperativ bewegender Atome oder Moleküle zurückführen, eine typische Eigenschaft glasbildender Flüssigkeiten bei Ann?herung an den Glasübergang.

Der Grad an Kooperativit?t der Teilchenbewegung unterscheidet sich von Glas zu Glas und l?sst sich mit dem sogenannten Fragilit?tsindex quantitativ erfassen. Teilt man die thermischen Ausdehnungskoeffizienten der verschiedenen Gl?ser durch ihren Fragilit?tsindex, ergibt sich auch für glasbildende Materialien eine inverse Proportionalit?t dieser skalierten Gr??e mit der Glasübergangstemperatur, was den signifikanten Einfluss der Kooperativit?t auf den Glasübergang beweist. Dieses universelle Verhalten erm?glicht interessanterweise dann auch die Vorhersage der Glasübergangstemperatur durch Messung der thermischen Ausdehnung und umgekehrt.

Fester Faktor trotz verschiedener Mechanismen

Der im Rahmen dieser Forschung gesammelte riesige Datensatz enthüllt eine weitere überraschend universelle Korrelation: Die thermische Ausdehnung im flüssigen Zustand ist, ebenso wie die Ausdehnung des Glases, mit der Glasübergangstemperatur korreliert und um etwa einen Faktor 3 gr??er als im Glaszustand eines Materials, egal zu welcher Klasse von Glasbildnern es geh?rt. Dies ist erstaunlich, da die Ausdehnung in beiden Materialzust?nden nach allgemeiner Auffassung eigentlich von grunds?tzlich verschiedenen Mechanismen bestimmt sein sollte: Vibrationen im festen Glas im Gegensatz zu dominierenden translatorischen Bewegungen in der Flüssigkeit.

"Unsere Datenanalyse zeigt, dass der Fest-flüssig-?bergang von Gl?sern nicht als einfacher Schmelzvorgang angesehen werden kann, sondern dass korrelierte Bewegungen der Teilchen eine wichtige Rolle spielen", resümiert Lunkenheimer und ist sich sicher, dass die gefundenen Universalit?ten wesentlich zu einem tieferen Verst?ndnis von so unterschiedlichen Materialien wie silikatbasierten Alltagsgl?sern, amorphen Polymeren und metallischen Gl?sern beitragen werden.

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Originalpublikation:

Peter Lunkenheimer, Alois Loidl, Birte Riechers, Alessio Zaccone, and Konrad Samwer: "Thermal expansion and the glass transition". Nature Physics, 6. Februar 2023,? https://www.nature.com/articles/s41567-022-01920-5

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