Der Wahl-O-Mat als Kompass: wie Menschen Wahlentscheidungen treffen
Interview mit Prof. Dr. Andrea Szukala, Inhaberin des Lehrstuhls für Politische Bildung an der Universit?t Augsburg
Am heutigen 6. Februar wurde der Wahl-O-Mat für die Bundestagswahl am 23. Februar freigeschaltet. Prof. Dr. Andrea Szukala ist Inhaberin des Lehrstuhls für Politische Bildung an der Universit?t Augsburg. Hier bildet sie Studierende im Lehramt Politik und Sozialkunde aus und forscht über politisches Lernen, auch im Internet. Sie ist zugleich die stellvertretende Vorsitzende des Verbandes der deutschen Politiklehrkr?fte und der Deutschen Vereinigung für die Politische Bildung und in diesen Funktionen gefragte Expertin, zum Beispiel als Sachverst?ndige im Deutschen Bundestag. Im Gespr?ch erz?hlt sie, wie Bürgerinnen und Bürger Wahlentscheidungen treffen, ob Instrumente wie der Wahl-O-Mat sie darin unterstützen k?nnen und welche M?glichkeiten politische Bildung vor Wahlen hat. Prof. Dr. Andrea Szukala: Wahlentscheidungen sind das Ergebnis recht komplexer Prozesse, bei denen viele verschiedene Faktoren zusammenwirken. Manche Menschen w?hlen aufgrund einer festen Bindung an eine Partei, die sie vielleicht schon seit? Jahrzehnten unterstützen. Andere wiederum lassen sich eher von aktuellen Themen und spezifischen Interessen leiten: Wie steht die Partei zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, zur Wohnungs- und Klimapolitik, zur Migration oder zur Landwirtschaftspolitik? Und dann gibt es natürlich noch diejenigen, die eher auf die Kandidatinnen und Kandidaten schauen: Wer wirkt kompetent, wer vertrauenswürdig oder sympathisch?? Gleichzeitig beeinflussen aber auch Medien und die laufenden Wahlkampagnen die Entscheidungen. Die aktuelle Nachrichtenlage spielt da eine besondere Rolle und kann die eigene Perspektive auf das ?ndern, was ich als W?hlerin relevant finde. Die Art, wie über Themen berichtet wird, wie stark Kandidierende in den Sozialen Medien pr?sent sind oder wie sie in TV-Debatten auftreten, formt dann natürlich das Bild, das sich die W?hlerinnen und W?hler von ihnen machen. Hinzu kommen soziale Einflüsse?– Gespr?che mit Freunden oder Diskussionen in der Familie. Im deutschen System spielen oft auch strategische ?berlegungen eine Rolle: Manchen ist es wichtig, eine Partei zu st?rken, die sicher die Fünf-Prozent-Hürde überwindet oder die sp?ter in einer bestimmten Koalition regieren k?nnte. Szukala: Der deutsche Wahl-O-Mat ahmte eine niederl?ndische Erfindung aus dem Jahr 1989 nach, den StemWijzer, der damals noch als Papiertest in Schulen durchgeführt wurde. Bei uns wurde er erstmals zur Bundestagswahl 2002 eingeführt und damals von 3,6 Millionen Menschen online ausprobiert. Bei der letzten Bundestagswahl 2021 nutzten dann 21,3 Millionen Menschen diese M?glichkeit. Das zeigt das sehr gro?e Potenzial für die Wahl am 23. Februar, denn diese Nutzungsintensit?t entspr?che etwa einem Drittel der Wahlberechtigten. Szukala: Da würde ich erst einmal entwarnen, denn der Wahl-O-Mat ist ein Produkt der Bundeszentrale für politische Bildung, einer staatlichen Institution, die strikter ?berparteilichkeit verpflichtet ist. Die Nutzung ist vor allem sehr datensicher: Anders als bei ?hnlichen Umfragen in sozialen Medien, von deren Nutzung ich eher abrate, darf man hier darauf vertrauen, dass die eigenen Daten nicht weiterverwertet werden. Als Nutzerin bin ich daher davor geschützt, eine sehr sensible digitale Spur zu hinterlassen und danach m?glicherweise durch personalisierte Angebote von Parteien tats?chlich manipuliert zu werden. Szukala: Viele Menschen haben heutzutage Schwierigkeiten, ihre politische Position auf einer klassischen Links-Rechts-Achse zu verorten. Der Wahl-O-Mat bietet hierfür eine Art Kompass, der hilft, die eigenen, zum Teil diffusen ?berzeugungen mit den Standpunkten von Parteien abzugleichen. Manch einer? erlebt da eine ?berraschung, mit der wir als politische Bildner weiterarbeiten k?nnen. Gegenüber einer Reduktion von politischer Komplexit?t im Wahl-O-Mat setzt politische Bildung zum einen auf Nuancierung und auf Arbeit an eigenen Werten und subjektiven demokratischen Perspektiven. ?
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Wie treffen Menschen eigentlich Wahlentscheidungen?
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Das klingt sehr kompliziert. Viele W?hler holen sich deshalb für diese Entscheidung Unterstützung. Das Instrument Wahl-O-Mat wurde bei den letzten Wahlen von vielen Menschen genutzt und wird in diesen Tagen freigeschaltet. Welche Bedeutung hat es eigentlich für die politische Meinungsbildung??
Untersuchungen belegen, dass das Instrument, das in den ersten Jahren vor allem von gebildeten, digital affinen jungen M?nnern genutzt wurde, immer weitere Teile der Bev?lkerung erreicht und heute beim "Normalbürger" angekommen ist. Die wichtigste Voraussetzung der Nutzung ist immer das bereits vorhandene politische Interesse. Aber gerade junge Menschen berichten auch, dass sie sich durch den Wahl-O-Mat zur Wahlteilnahme motiviert fühlen.
Wenn es genutzt wird, tr?gt das Angebot zur besseren Information der W?hlenden bei und gleicht damit Bildungsunterschiede und soziale Unterschiede beim Zugang zu politischen Informationen auch ein wenig aus. Denn klar ist: Nur wenige Menschen, auch wenn sie politisch sehr interessiert sind, haben die Zeit, die h?ufig recht unverst?ndlich geschriebenen Wahlprogramme der Parteien durchzuarbeiten. Wahlprogramme sind erfahrungsgem?? Ergebnisse von komplexen Kompromissen in den Parteien und erschlie?en sich leider oft eher mühsam.
Hier greift der Wahl-O-Mat: Er filtert nicht die Inhalte der Wahlprogramme, sondern er dokumentiert eine Auswahl von 38 Fragen. Diese Auswahl wird von der sogenannten Redaktion zusammengestellt, einer vielf?ltigen Gruppe von Menschen unter 26 Jahren, gemeinsam mit Expertinnen und Experten und den Verantwortlichen der Zentralen für politische Bildung. Zu diesen 38 Fragen müssen sich die Parteien dann positionieren. Da genau liegt aber auch ein Problem des Wahl-O-Mat, denn diese Aussagen der Parteien sind nicht immer vollst?ndig durch ihre Wahlprogramme gedeckt und die Auswahl der Fragen filtert die Vergleichsm?glichkeiten doch schon erheblich.Hei?t das, dass ich durch den Wahl-O-Mat manipuliert werden kann?
Aber ja, es gab immer wieder Auseinandersetzungen um die Stellungnahmen der Parteien und deren Glaubwürdigkeit angesichts etwas anderslautender Programme. Gerade die Konflikte um das Instrument zeigen, dass der Wahl-O-Mat nicht nur ein technisches Hilfsmittel ist, sondern auch eine politisch bedeutsame Instanz, deren Gestaltung und Wirkung regelm??ig hinterfragt werden müssen. Ein wichtiger Schritt war in den letzten Jahren, dass die Darstellung der Parteibegründungen stark verbessert wurde, um den Nutzern mehr Transparenz und ?bersicht zu bieten.
Die Parteipositionen zu einer These k?nnen zum Beispiel sortiert und miteinander verglichen sowie s?mtliche Antworten einer Partei auf einen Blick aufgelistet werden. So kann ein umfassender ?berblick über die Positionen gewonnen werden, der auch für den Gebrauch in der politischen Bildung sehr nützlich ist. Wir k?nnen ja genau an jenem Punkt mit politischer Bildung ansetzen, an dem wir erkennen, dass Positionen eventuell nicht deckungsgleich sind, und dann mit den Teilnehmenden untersuchen, woran das liegt, mit welcher Absicht hier manipuliert wurde.Wie kann politische Bildung bei der Wahlentscheidung weiter unterstützen?
Zum anderen wird bei uns regelm??ig ein anderer Wahl-O-Mat-Effekt adressiert: Kleinere Parteien erhalten durch den Wahl-O-Mat mehr Sichtbarkeit und dies kann in einem fragmentierten Vielparteiensystem dazu führen, dass Bürgerinnen und Bürger bei der Nutzung Parteien entdecken, die ihre Interessen auf den ersten Blick angemessener repr?sentieren.
Aber hier muss grunds?tzlich reflektiert werden, worauf ich meine Wahlhandlung eigentlich richten m?chte: Geht es mir eher um die politische Artikulation und deckungsgleiche Repr?sentation von eigenen Spezialinteressen, um Protest oder um die Absicherung der Handlungsf?higkeit einer Regierung? Dies sind grunds?tzliche Vorkl?rungen der mündigen Wahlhandlung, die es erforderlich machen, dass Bürgerinnen und Bürger die Wirkzusammenh?nge im deutschen Regierungs- und Parteiensystem tats?chlich durchdringen. Hierfür werden bereits in der Schule durch eine qualitativ sehr hochwertige politische Bildung unverzichtbare Grundlagen gelegt.
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