Online-Bibliothek: Ethikbegründung - Was ist Strukturenethik?
Thomas Hausmanninger
?berlegungen zum Selbstverst?ndnis der Christlichen Sozialethik
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Es scheint sich von selbst zu verstehen: Christliche Sozialethik ist das Gegenstück zur Individualethik; sie bezieht sich auf gesellschaftliche Verh?ltnisse und jene Strukturen, die der Verfügungsmacht des einzelnen entzogen sind. Trotzdem gibt es letzthin immer wieder Auseinandersetzungen um das genaue Theoriemuster der Sozialethik, sei es, da? diese als Ethik sozialer Bewegungen verstanden, zu einer Systemethik zugespitzt oder diskursethisch transformiert werden soll. Im folgenden will ich daher versuchen, mein Verst?ndnis der Christlichen Sozialethik als Strukturenethik darzustellen und zwar am Beispiel von Systemsteuerungsproblemen moderner Gesellschaften. Hierzu umrei?e ich zun?chst historisch-soziologisch die Systemstruktur dieser Gesellschaften. Danach benenne ich den Ansatz einer christlichen Sozialethik und einige grunds?tzliche Systemprobleme, um anhand dieser ein strukturethisches Vorgehen zu skizzieren. Abschlie?end gehe ich auf die Frage nach dem spezifisch Christlichen in einer Strukturenethik ein.
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1. Soziologische Begriffsperspektive: Zur Systemstruktur moderner Gesellschaften
Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch eine Rationalisierung der Lebens- und Gesellschaftsverh?ltnisse aus sowie durch die Ausdifferenzierung und Interpenetration relativ autonomer Handlungssysteme. Die Rationalisierungsprozesse heben letztlich schon in der Sp?trenaissance mit der Mathematisierung und Apparatesierung der Naturwissenschaften sowie einer ersten technischen Revolution an. Hier setzt allm?hlich das neuzeitlich-moderne Weltverst?ndnis ein, das die Welt vorrangig als Zusammenhang von vernünftig aufkl?rbaren Funktionsgesetzen betrachtet und sie nun in einem zuvor nicht gekannten Ma? menschlichen Zwecken instrumentell unterwirft. Kern des Rationalisierungsprozesses ist so eine funktional-instrumentelle Spezialisierung des Vernunftgebrauchs. Insbesondere vermittelt über die Entstehung der modernen ?konomie, in denen sie sich als rechnender wie strategischer Vernunfteinsatz fortschreibt, beginnt diese Rationalisierung auch eine gesellschaftsstrukturelle Bedeutung zu entfalten.
Dieser Proze? ist mit einer zunehmenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft in eigenst?ndige Handlungssysteme gekoppelt. Mit der modernen ?konomie ist bereits ein solches genannt. Die Differenzierungsprozesse setzen schon früh ein. So hebt im Investiturstreit eine Trennung von religi?sen und politischen Zust?ndigkeiten an, die auf einem langen Weg schlie?lich in den weltanschaulich neutralen Staat mündet. Mit Wilhelm Korff l??t sich darin eine Differenzierung von Kultursachbereichen sehen. Diese setzt sich im 12. Jahrhundert mit der Einrichtung der Universit?t, d.h. einer allm?hlichen Eigenst?ndigkeit der Wissenschaft fort. In der Renaissance beginnen sich Kunst und Technik zu trennen, hinzu kommt sp?ter die sukzessive Freisetzung der ?konomie von unmittelbar staatlicher Zust?ndigkeit und aus den Bindungen des Merkantilismus. Im 19. Jahrhundert ergibt sich mit den Massenmedien ein weiterer relativ eigenst?ndiger Kultursachbereich. Entscheidend ist, da? hierbei jeder Bereich seine eigene Sachlogik und seine besonderen Aufgabenstellungen ausformen kann, ohne noch auf Problemstellungen anderer Bereiche eingehen zu müssen. Es ergibt sich eine Spezialisierung von Problemen und L?sungen, die zugleich die funktionale Effizienz jedes Bereichs steigert. In der Moderne setzt sich dieser Proze? weiter fort. Er führt zu einer durchg?ngigen funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft in einzelne Handlungssysteme, die mit einer Differenzierung von Zielsetzungen, Institutionen und Rollen einhergeht. Metaphorisch gesprochen, weist die moderne Gesellschaft gewisserma?en die L?sung bestimmter Aufgaben weitgehend autonomen Teilsystemen zu. Sie gliedert sich damit funktional und bildet funktional-instrumentell rationalisierte Systeme aus. W?hrend die Differenzierungsvorg?nge vor allem von Niklas Luhmann beschrieben worden sind, hat in jüngerer Zeit Richard Münch darauf aufmerksam gemacht, da? an deren Seite auch Interpenetrationen, Zusammenschlüsse von Teilsysstemen treten, die mitunter neue Handlungsbereiche entstehen lassen.
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2. Strukturenethik und Systemsteuerungsprobleme
Christliche Sozialethik mu? sich mit dieser Grundstruktur moderner Gesellschaft befassen. Ihren normativen Ansatz findet sie hierbei im Verst?ndnis des Menschen als Person, die sie als Vernunft- und Freiheitswesen bestimmt. Damit findet sie sich weitgehend Seite an Seite mit den meisten, letztlich von der neuzeitlich-modernen Wende zum Subjekt inspirierten, modernen Ethiken. Als oberster Grundsatz der christlichen Sozialethik kann mit GS 25,1 formuliert werden, da? die menschliche Person Ursprung, Tr?ger und Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen ist und sein mu?, d.h. mithin, da? alle gesellschaftlichen Strukturen der Erm?glichung, Wahrung und F?rderung menschlichen Personseins zu dienen haben. Dem Personprinzip ordnen sich weiter die Strukturprinzipien Subsidiarit?t und Solidarit?t zu, deren erstes personaler Freiheit und Autonomie und deren zweites der Sozialverwiesenheit der menschlichen Person Rechnung tr?gt. Mit Rückgriff auf ?berlegungen von Kant und John Rawls l??t sich dies wiederum in Gestalt von Grunds?tzen formulieren: Im Rahmen einer allgemeinen Freiheitsordnung gebietet das Subsidiarit?tsprinzip, der kleineren Struktureinheit solange den Vorrang vor der gr??eren einzur?umen, als sie sich als die leistungsf?higere erweist. Das Solidarit?tsprinzip nimmt alle zugleich für das Ganze in Dienst, wobei dieses Ganze seine ethische Bedeutung jedoch aus der Erm?glichung der personalen Selbstrealisierung jedes einzelnen empf?ngt. In diesem Rahmen sind daher auch natural gegebene wie aus dem Freiheitsvollzug hervorgehende soziale Ungleichheiten so organisatorisch einzuholen, da? auch der Schw?chste noch mitgetragen wird. Diese Prinzipien und Grunds?tze stellen die ethische Perspektive für die sozialethische Problemdiagnostik und geben zugleich das ethische Ziel der Strukturnormierung an.
Vor diesem Hintergrund lassen sich nun einige ethisch bedeutsame Systemprobleme dingfest machen. Formal k?nnen diese in differenzierungs- und interpenetrationsbedingte Probleme unterteilt werden. Zun?chst l??t sich eine Tendenz der Systeme erkennen, sich von Werthorizonten abzukoppeln bzw. ethische gegen funktionale Ziele auszutauschen. Unter den Bedingungen der funktionalen Differenzierung gehen Systemziele aus den Funktionsgesetzen der Handlungssysteme selbst hervor. Diese sind dabei so beschaffen, da? ihre Verwirklichung dem Bestand des Systems dient, und erhalten deshalb aus dem Blickwinkel des Systems betrachtet einen werthaften Status - sie sind eufunktional. Eufunktionalit?t bedeutet jedoch noch nicht, da? hierdurch zugleich ein ethischer Wert verwirklicht wird, sondern kann diesem ebenso entgegenstehen. Profit zu erwirtschaften beispielsweise - ein durchaus eufunktionales Ziel der ?konomie - wird erst zu einem ethischen Ziel, wenn hierdurch menschliches Wohl erm?glicht und gesichert wird. Weiter bedingt die Eigenlogik der Systeme eine Tendenz zu Betriebsblindheiten. Bereichszielexterne Folgewirkungen werden als externe Effekte ausgeblendet. Die ?kologische Krise ist ein Beispiel hierfür. Aus den neben der Differenzierung ebenfalls stattfindenden Interpenetrationen schlie?lich k?nnen sich unerwünschte ?berherrschungs- und Verformungseffekte ergeben. So unterwirft etwa die Interpenetration von ?konomie und Medien den kommunikativen Imperativ der Profitmaxime. Dies ist nicht nur f?rderlich für den Kommunikationsproze?, sondern kann auch Diskursverzerrungen wie etwa Sensationalisierungseffekte oder Vorenthaltung von Informationen und Meinungspositionen hervorrufen. Beim Versuch, diese Systemprobleme zu l?sen, gilt es nun, die Funktionsf?higkeit der Systeme zu wahren bzw. zu erm?glichen. In diesem Sinn spricht auch das Konzil in GS 33 im Zusammenhang mit der Autonomie der irdischen Wirklichkeiten davon, da? die Eigengesetzlichkeiten von Kultursachbereichen zu respektieren seien. Sowohl Luhmann, als auch dem Wirtschaftsethiker Karl Homann ist daher recht zu geben, wenn sie vor einer Gef?hrdung der Systemleistung durch Moralisieren - also einer naiven, unvermittelten ?bertragung von Moralvorstellungen in Systemnormierung - warnen. Differenzierung, Interpenetration und Funktionalit?t der Systeme sind nicht einfach aufzuheben, sondern unter ethischen Zielen jeweils leistungsf?hig zu halten. Dies wiederum l??t sich nicht mit einem Appell an das Ethos des oder der einzelnen allein bewerkstelligen. Systeme und Systemprozesse sind überpersonal strukturiert. Sie übersteigen bis zu einem gewissen Grad die Steuerungs- und Verantwortungsmacht des Individuums. Ziel mu? deshalb die Implantation der Ethik in die systemischen Strukturen sein - das hei?t, es mu? dafür Sorge getragen werden, da? die Systemzusammenh?nge das Handeln des einzelnen Subjekts im System so orientieren, da? es Teil eines ethisch verantworteten Gesamtprozesses wird. Nur so kann dann auch der oder die einzelne sich systemspezifisch und zugleich moralisch verhalten. Diese Implantation ist einerseits durch eine ?bersetzung ethischer Ziele in die ?Sprache?, den Funktionscode der Systeme bzw. eine Nutzung der Systemlogik für ethische Ziele zu leisten. Zum anderen bedarf es jedoch auch einer Kanalisierung der Systemprozesse, die unter Umst?nden - in Anlehnung an Oswald von Nell-Breuning formuliert - auf eine Umbiegung der Systemlogik hinzuarbeiten hat. Die Bereitstellung entsprechender, systemorientierender Normen aber ist Aufgabe einer Strukturenethik.
Eine solche Normierung mu? auf drei Ebenen realisiert werden. Wiederum mit Homann angesetzt, ist zun?chst eine Rahmenordnung zu entwerfen bzw. auszubauen, die strukturethische Erfordernisse in Recht übersetzt und durchsetzbar macht. Auf dieser Ebene kann bereits Systemproblemen bis zu einem gewissen Grad steuernd begegnet werden: Systemprozesse lassen sich auf ethische Ziele hin kanalisieren - etwa indem durch Gesetze für die Lebensmittelproduktion umgrenzt wird, womit Profit zu erwirtschaften ist und womit nicht. Externen Effekten kann durch komplement?re Strukturierung anderer Bereiche gewehrt werden - etwa, wenn durch ?konomischen Wandel bedingte Arbeitslosigkeit im Versicherungswesen aufgefangen wird. M?glich ist jedoch auch Rückverlagerung in das verursachende System - beispielsweise, wenn ?kologische Auswirkungen ?konomischen Handelns über eine entsprechende Steuergesetzgebung in die Sprache monet?rer Kosten übersetzt und für die ?konomie intern wieder fühlbar gemacht werden. Auf diese Weise l??t sich in Grenzen auch interpenetrativ verursachten Verformungseffekten gegenwirken - so k?nnen gesetzliche Regelungen für kommerzielles Fernsehen durch das Gebot der Binnenpluralit?t, also eines vielf?ltigen Angebots, ?konomisch verursachten Diskursverzerrungen wenigstens ansatzhaft vorbeugen.
Die in den genannten Beispielen spürbaren Grenzen der M?glichkeiten der Rahmenordnung zeigen jedoch, da? die Strukturnormierung auf einer zweiten Ebene fortzusetzen ist. Im Bereich der rechtlichen Rahmenordnung lassen sich nur sehr allgemeine, grunds?tzliche Regeln festschreiben, denen zudem eine gewisse Starrheit eignet. Flexibler und spezifischer k?nnen Strukturnormen daher auf der Ebene institutionalisierter Selbstbindung fixiert werden. Hierzu z?hlen spartenspezifische Chartas wie der Kodex des Presse- oder des Werberats, Firmensatzungen, innerbetriebliche Rahmenrichtlinien, Branchenvereinbarungen etc. Die Rahmenordnung l??t sich auf diese Weise erg?nzen. Am Beispiel des Pressekodex zeigt sich die prinzipielle Chance solcher Selbstbindung: Dieser regelt die Wettbewerbssituation für Journalisten und kann so einer ?konomisch bedingten Diskursverzerrung entgegenwirken. Allerdings mu? solche Selbstbindung wirklich eine Bindung, also mit Sanktionsmacht ausgestattet sein - ein Element, das beim Pressekodex zu schwach ausgebildet ist. Grunds?tzlich aber ist die Selbstbindung ein geeignetes Instrument, die einzelnen Akteure eines Handlungssystems bei dem Versuch, zugleich moralisch und systemspezifisch zu handeln, vor ?berforderung zu schützen. Sie k?nnen dadurch wieder moralischer Ursprung und Tr?ger des Systemprozesses werden.
Als dritte Ebene ist schlie?lich noch die des individuellen Ethos in die Realisierung der Strukturnormierung einzubeziehen. Zum einen n?mlich fehlte der Strukturenethik in Rahmenordnung und Selbstbindung ihre Wirksamkeit, f?nde sie nicht Eingang in das Ethos des Individuums. Nur vom Ethos her kann daher auch damit gerechnet werden, da? die Rahmenordnung bzw. Selbstbindung auf der Systemebene nicht blo? als Instanz behandelt wird, die es m?glichst zu umgehen bzw. nur auf ihre Lücken hin auszuwerten gilt. Zum zweiten bedarf es ebenso der situationsspezifischen Operationalisierung von Strukturnormen durch die im System handelnden Akteure. Zum dritten ist au?erdem moralische Kreativit?t n?tig: Den dynamischen Ver?nderungen der systeminternen wie -externen Bedingungen mu? nicht nur funktional, sondern auch durch Weiterentwicklung der Strukturnormen und ihre ?bertragung auf die Ebene der Selbstbindung wie Rahmenordnung Rechnung getragen werden. Au?erdem k?nnen in der einzelnen Entscheidungssituation weitergehende normative Optionen als moralisch richtig zu qualifizieren sein, als dies die Strukturnorm im allgemeinen für das Gesamtsystem vorschreibt. Mitunter kann es daher auch gefordert und produktiv sein, partiell gegen die Funktionslogik des Systems zu handeln. So ist z.B. die Umleitung von Profit in firmeneigene Entwicklungshilfe, oder in den Kunst- und Kulturbereich eine ethosspezifische Leistung in der ?konomie, die den Rahmen der Gewinnung von Firmenimage überschreitet und zudem dem marktwirtschaftlichen Gebot der strategischen Investition widerspricht. Sie kann entsprechend nicht generell festgeschrieben werden, ohne jedoch moralisch überflüssig zu sein. Von diesem Ansatz aus aber l??t sich meines Erachtens mit den Systemsteuerungsproblemen moderner Gesellschaften konstruktiv umgehen, ohne in naive Moralisierung zu verfallen. Anders als bei einer reinen Diskursethik kommen diese Probleme jedoch unverstellt in Blick, und ist zugleich der Gefahr einer Aufl?sung der Ethik in Systemtheorie - das Problem einer reinen Systemethik - gewehrt.
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3. Zur Frage nach dem spezifisch Christlichen in einer Strukturenethik
Die Strukturnormierung - wie jede ethische Normierung - erh?lt ihre eigentlich ethische Begründung aus ethischen Prinzipien und Grunds?tzen, d.h. aus den Reflexionsleistungen der praktischen Vernunft. In dieser Hinsicht gibt es kein christliches Sondergut. Trotzdem l??t sich die christliche von einer rein philosophischen Sozialethik unterscheiden und schlie?t die M?glichkeit spezifisch christlicher normativer Optionen ein. Diese Spezifit?t ergibt sich aus dem christlichen Glauben in seiner Doppelgestalt als existentieller Akt (fides qua) und Inhalt (fides quae). Mit Rekurs auf die Glaubensinhalte vermag die christliche Sozialethik die strukturell-gesellschaftliche Existenzbew?ltigung des Menschen in einem gr??eren Sinnhorizont zu sehen. Sie kann der Frage nach dem letzten Grund wie dem letzten, umfassenden Sinn menschlicher Moralit?t protologisch und eschatologisch Antwort verschaffen: Letzter Grund ist der sich im Sch?pfungshandeln ?u?ernde Liebeswille Gottes, der mit dem Menschen eine konstruktive Freiheitsgeschichte beginnt. Mit der praktischen Vernunft gibt er seinem Gesch?pf zugleich ein Instrument zur verantwortlichen Bew?ltigung sowie zum eigenst?ndigen Entwurf dieser Freiheitsgeschichte an die Hand. Letztes Ziel ist das Heil, zu dessen geschichtlicher Bef?rderung der Mensch als Mitarbeiter Gottes gerufen ist, dessen endgültige Gestalt jedoch Gottes Tat und der blanken Verfügungsmacht des Menschen entzogen bleibt. Das moralische Handeln des Menschen wie die strukturethische Bemühung der Sozialethik sind in einen Sinnhorizont eingebettet, der dieses Handeln der Absurdit?t entrei?t und die Ethik metaphysisch-theologisch vervollst?ndigt. Moralisches Handeln und ethische Reflexion bleiben damit vor ?berforderung ebenso bewahrt wie vor Hybris gewarnt.
Die letzten ?berlegungen verweisen bereits darauf, da? die Inhalte des Glaubens auch praktische Bedeutsamkeit entfalten k?nnen. Sie sind zugleich Quellen der wertsetzenden Intuition des Christen. Wird diese Intuition von der wissenschaftlichen Reflexion der Ethik ins Bewu?tsein gehoben, als nicht widervernünftig erwiesen und mit den moralischen Prinzipien wie den Sachgesetzlichkeiten einer Problemstellung vermittelt, so kann sie die spezifische Gestalt der Normierung mitbedingen. In dieser Weise entfaltet etwa der eschatologische Vorbehalt einen antitotalit?ren Impetus, der gegen jede Herbeizwingung letzter Heilszust?nde gerichtet ist und eine entsprechende Orientierung für die strukturethische Normfindung bietet. Ebenso bildet die Verhei?ung des Heils und die Berufung des Menschen zu einem Leben in Fülle jedoch eine kritische Folie für die Bewertung von innerweltlichen Unheilszust?nden. Dies schl?gt sich nicht zuletzt in einer vorrangigen Option für die Armen, Schwachen und Ausgebeuteten nieder, die jeder liberalistischen Engführung einer Strukturenethik entgegensteht. Aus der theologischen Anthropologie ergibt sich zudem eine ganzheitliche Sicht des Menschen. Diese ist beispielsweise geeignet, der Tendenz zu einer rationalistischen Einseitigkeit, wie sie dem modernen Subjektbegriff eignet, gegenzusteuern und mit Rekurs auf die Transzendenzverwiesenheit des Menschen der Offenhaltung von R?umen für Sinnreflexion und ihrer F?rderung strukturell zuzuarbeiten.
Auf der Ebene der wertsetzenden Intuition ist auch die praktische Bedeutsamkeit der fides qua anzusetzen. Als Erfahrung letzten Getragenseins ist diese Sinnvertrauen. Sie bezieht eine affirmative Stellung zu Welt und Mensch, die auf die Liebe Gottes in Gestalt einer - thomanisch gesprochen - fides caritate formata antwortet. In dieser Gestalt kommt die fides qua entsprechend etwa biophilen Normvorstellungen entgegen. Aus der Grunderfahrung der Befreiung von - mit Wolfgang Schrage gesagt - der Zwingmacht der Sünde vermag der Glaube zudem Zutrauen zum Menschen zu stimulieren und eine Bevorzugung freiheitsfreundlicher normativer Optionen bedingen. Der Glaube als Akt f?rdert so einen konstruktiven Weltbezug und eine entsprechende Normgestaltung.
Freilich lassen sich - um es nochmals deutlich zu sagen - Normen aus dem Glauben nicht einfach ableiten. Glaubensinhalte sind Best?nde theoretischer Vernunft und der Glaubensakt ist eine existentielle Haltung. Die von der Doppelgestalt des Glaubens bedingten moralischen Intuitionen bedürfen daher der Vermittlung mit praktischer Vernunft und Sachgesetzlichkeiten, aus der erst konkrete und begründete Normen entstehen k?nnen. Gleichwohl bedingt der Glaube eine kennzeichnend christliche Ethik und zugleich eine Dynamik, die auch die Strukturnormierung davor bewahren kann, eine blo?e ?Systemverwaltungsethik? zu sein.